Sprachwissen

Der Trick mit dem Buchstabensalat

Durch das Internet geistert seit einigen Jahren ein Text, der suggeriert, Rechtschreibung wäre quasi überflüssig, da das menschliche Auge sowieso keine große Rücksicht auf Rechtschreibfehler nehmen würde  – Falschgeschriebenes bliebe trotzdem immer lesbar. Per E-Mail, in Foren oder Weblogs verbreitet sich dieser Text in verschiedenen Variationen, zuletzt in einer größeren Welle Ende 2006 (oft mit Kommafehlern, hier korrigiert):

Gmäeß eneir Sutide eneir elgnihcesn Uvinisterät ist es nchit witihcg, in wlecehr Rneflogheie die Bstachuebn in eneim Wrot snid, das ezniige was wcthiig ist, ist, dass der estre und der leztte Bstabchue an der ritihcegn Pstoiion snid. Der Rset knan ein ttoaelr Bsinöldn sien, tedztorm knan man ihn onhe Pemoblre lseen. Das ist so, wiel wir nciht jeedn Bstachuebn enzelin leesn, snderon das Wrot als gseatems.

Auf den ersten Blick faszinierend, wie leicht sich dieser eigentlich unlesbar geschriebene Text dann doch recht gut lesen lässt. Braucht man sich also tatsächlich im Grunde keine Gedanken mehr um Rechtschreibung zu machen? Sind Deutschlehrer, Lektoren und andere Besserwisser einfach nur kleinlich? Nein. Denn dieser zerwürfelte Text ist lediglich ein Trick. Der Inhalt ist nicht völlig falsch (es gab wirklich 1979 eine englische Doktorarbeit mit dem Titel „The Significance of Letter Position in Word Recognition“, die diesen Aspekt aufgriff und auf die er sich bezieht), aber der Text verschweigt auch einiges.

Denn dieses Beispiel oben funktioniert nur, weil es sich bei den Wörtern um bekannte und vor allem gebräuchliche Wörter handelt, die jeder von uns relativ oft liest. Der geübte Leser liest in der Tat nicht mehr Buchstabe für Buchstabe nacheinander wie ein Grundschüler, sondern erkennt das Wort und seine Bedeutung sofort, wenn er es sieht. Deshalb lassen sich auch durcheinandergewürfelte Wörter erkennen, weil man sich an die Wörter mit ihren dazugehörenden Buchstaben erinnert. Im Grunde liest man nicht, sondern setzt bereits erlernte Wörter wieder sinnvoll zusammen – man „errät“ das richtige Wort. Wenn man so will, handelt es sich dabei um eine Form von Pareidolie bzw. Apophänie – die Tendenz des menschlichen Verstandes, vertraute Dinge (hier: bekannte Wörter) in zufällig Angeordnetem zu erkennen, obwohl sie in Wirklichkeit gar nicht vorhanden sind: man erwartet ein bekanntes Wort und erkennt es dadurch auch in einer ähnlichen Anordnung. Das würde allerdings noch nicht reichen, um den obigen Text zu verstehen; denn wenn derart verschlüsselte Wörter aus ihrem Gesamtzusammenhang gerissen werden, nicht in einem Satz vorkommen, sondern einzeln für sich stehen, ist es z. B. schon viel schwieriger, ihren Sinn zu erraten:

ttdrzoem *

Erst wenn typische Satzstrukturen, Satzzeichen und die Grammatik dazukommen, wird es leserlich. Außerdem enthält das Originalbeispiel aus gutem Grund keine zusammengesetzten Wörter, denn gerade mit der deutschen Sprache funktioniert der Zerwürfelungstrick dann nicht mehr besonders gut, da man im Deutschen Wörter fast beliebig aneinanderfügen kann – also Begriffe entstehen können, die man so vielleicht noch nie gesehen hat und daher auch nicht wiedererkennen kann:

Melhmrhdchncecnunigssumäme **

Je länger das Wort ist, desto schwieriger wird die Entschlüsselung, sogar dann, wenn lange Wörter in gewohnten Satzstrukturen auftauchen. Wenn einem ein Wort nicht vertraut vorkommt, kann man es kaum enträtseln. Die Probe kann man ganz einfach machen: einen Fachtext mit vielen weniger bekannten Wörtern auf diese Art kodieren. Hier wird es dann fast unmöglich, die Bedeutung zu erkennen:

Skuxypendroprhälae oedr Sundräkee Pvenotiärn bhiezet sich auf Feunnkehnürrg von Keithrenktan (Seiennrcg) und Bhanduleng in einem mösilghct fherün Saudtim. Bliespiee hüreifr sind die Korrgsorvebe oder das Neorceinbenenseugreng. ***

Den Mittelteil bekommt man vielleicht noch raus, den gesamten Text versteht man aber wahrscheinlich allenfalls als Mediziner oder nur dann, wenn man bereits vorher weiß, dass es darin um die frühzeitige Behandlung von z. B. Krebserkrankungen geht.

Nicht jeder kann solche buchstabenverdrehte Texte daher gleichermaßen gut lesen: es kommt auf die Geübtheit des Lesers an, sein Leseverständnis, auf die Wortlänge, auf das Satzgefüge und vor allem darauf, ob man die einzelnen Wörter bereits kennt, d. h., wenn Sie das Beispiel ganz oben ohne größere Schwierigkeiten lesen konnten, bedeutet das noch nicht, dass es jedem anderen genauso gelingt. Es bedeutet nur, dass Sie selbst eine gute Lese-/Schreibkompetenz haben. Mit Rechtschreibung hat das Ganze im Grunde dann auch herzlich wenig zu tun – die verdrehten Wörter sind nämlich in Wirklichkeit ja sogar richtig geschrieben. Sobald man aber das Originalbeispiel nicht mehr nur falsch zusammensetzt, sondern tatsächlich falsch schreibt, eventuell sogar einen Buchstaben zu viel nimmt oder einen weglässt, wird es sofort deutlich schwieriger, den Inhalt zu entziffern:

Gmäes enia Shutidce ebneir älgnihcesn Uveinihnstert ißt es nchit whcitich, (...) ****

Ein kurioses Fazit zu diesem Phänomen könnte daher lauten: In sich verdrehte, einfache Wörter von allgemein bekannten Begriffen lassen sich durchaus bequem lesen – wenn sie ansonsten richtig geschrieben sind.

Das eingangs gezeigte Beispiel ist daher kein Beweis für die Überflüssigkeit von Rechtschreibung, sondern nur ein Beleg für die Fähigkeiten des menschlichen Gehirns, sich oft Wiederholtes gut einprägen zu können. Eine Weisheit, die jeder kennt, der schon mal Vokabeln gelernt hat. Deshalb sind Tippfehler übrigens auch kein Zeichen für mangelnde Rechtschreibkenntnisse: je geübter ein Schreiber im Lesen ist, desto häufiger wird er eigene Tippfehler übersehen.


* trotzdem

** Milchmädchenrechnungssumme

*** Sekundärprophylaxe oder Sekundäre Prävention bezieht sich auf Früherkennung von Krankheiten (Screening) und Behandlung in einem möglichst frühen Stadium. Beispiele hierfür sind die Krebsvorsorge oder das Neugeborenenscreening. (Auszug aus Wikipedia)

**** Gemäs eina Schtudie einber änglischen Unniversiteht ißt es nicht wichtich (...)
12.05.2007/08.09.2011; letzte Änderung am 16.07.2014